Definition und Klassifikation

Die Blepharitis ulcerosa (auch als ulzerative Blepharitis bezeichnet) ist eine schwerwiegende Entzündung der Lidränder, charakterisiert durch die Bildung von Ulzerationen, Krusten und in fortgeschrittenen Fällen durch Narbenbildung. Sie stellt eine spezifische Form der anterioren Blepharitis dar und ist von den seborrhoischen Formen klinisch und ätiologisch zu unterscheiden. Die Erkrankung manifestiert sich primär an den vorderen Lidrandstrukturen und den Wimpernfollikeln, kann jedoch auf tieferliegende Strukturen übergreifen.

Im Gegensatz zur Blepharitis seborrhoica oder Blepharitis squamosa, die durch Schuppenbildung und Irritation gekennzeichnet sind, weist die ulzeröse Form charakteristische Gewebsdestruktionen auf. In der klinischen Praxis wird sie häufig dem Formenkreis der Blepharitis staph(ylococc)ica zugeordnet, insbesondere wenn Staphylococcus aureus als ursächlicher Erreger nachgewiesen werden kann.

Epidemiologie

Die Prävalenz der Blepharitis ulcerosa ist niedriger als die der seborrhoischen Form, macht jedoch etwa 15-25% aller Blepharitis-Fälle aus. Die Inzidenz zeigt zwei Altersgipfel: einen im Kindes- und Jugendalter und einen zweiten bei Erwachsenen über 60 Jahren. Männer und Frauen sind etwa gleich häufig betroffen.

Risikofaktoren umfassen:

In gewissen geographischen Regionen mit niedrigeren hygienischen Standards oder eingeschränktem Zugang zu medizinischer Versorgung können höhere Prävalenzraten beobachtet werden.

Ätiologie und Pathogenese

Mikrobiologische Faktoren

Die Blepharitis ulcerosa wird primär durch bakterielle Infektionen verursacht. Staphylococcus aureus ist der häufigste nachgewiesene Erreger (in etwa 70-90% der Fälle), gefolgt von Staphylococcus epidermidis. In selteneren Fällen können auch andere Bakterien wie Propionibacterium acnes, Korynebakterien sowie gramnegative Erreger isoliert werden.

Die Pathogenität von S. aureus wird durch verschiedene Virulenzfaktoren vermittelt:

Diese Virulenzfaktoren führen zur Schädigung des Lidrandepithels und ermöglichen die Invasion tieferer Gewebsschichten mit nachfolgender inflammatorischer Reaktion.

Immunologische Faktoren

Die ulzeröse Blepharitis weist eine komplexe immunologische Komponente auf. Die bakteriellen Antigene induzieren eine starke lokale Immunantwort mit Aktivierung von neutrophilen Granulozyten und Makrophagen. Die Freisetzung proinflammatorischer Zytokine (IL-1β, TNF-α, IL-6) verstärkt die lokale Entzündungsreaktion. Bei chronischen Verläufen entwickelt sich häufig eine überschießende Typ-IV-Hypersensitivitätsreaktion gegen bakterielle Antigene oder körpereigene, durch die Entzündung modifizierte Strukturproteine.

Bei Patienten mit rezidivierenden Verläufen wurden erhöhte Spiegel von Autoantikörpern gegen Meibom-Drüsen-Proteine nachgewiesen, was auf eine sekundäre Autoimmunkomponente hindeutet.

Assoziierte Erkrankungen

Die Blepharitis ulcerosa tritt gehäuft in Assoziation mit anderen Erkrankungen auf:

  1. Dermatologische Erkrankungen:
    • Rosacea (in bis zu 50% der Fälle)
    • Seborrhoisches Ekzem
    • Atopische Dermatitis
    • Akne vulgaris
  2. Ophthalmologische Komorbiditäten:
    • Keratoconjunctivitis sicca
    • Meibomitis (Dysfunktion der Meibom-Drüsen)
    • Rezidivierende Hordeola und Chalazien
  3. Systemische Erkrankungen:
    • Diabetes mellitus (insbesondere bei rezidivierenden Infektionen)
    • HIV-Infektion und andere immunsuppressive Zustände
    • Autoimmunerkrankungen (Sjögren-Syndrom, systemischer Lupus erythematodes)

Klinisches Bild

Symptomatik

Patienten mit Blepharitis ulcerosa präsentieren sich typischerweise mit:

Die Beschwerden sind meist bilateral, können jedoch asymmetrisch ausgeprägt sein. Charakteristisch ist eine Verschlechterung bei Müdigkeit, Stress und längerer Bildschirmarbeit.

Klinische Zeichen

Bei der biomikroskopischen Untersuchung lassen sich folgende Befunde erheben:

  1. Lidrand:
    • Hyperämie und diffuse Schwellung
    • Ulzerationen entlang des Lidrandes, typischerweise an der Basis der Zilien
    • Gelblich-bräunliche, festhaftende Krusten an den Wimpernbasen
    • „Collaretten“ (manschettenartige Verkrustungen um die Wimpernbasen)
    • Madarosis (Wimpernverlust) in fortgeschrittenen Fällen
    • Bei chronischem Verlauf weißliche Vernarbungen
    • Hypertrophie der Lidrandkante (Tylosis)
  2. Konjunktiva:
    • Konjunktivale Hyperämie, besonders im Bereich der Fornices
    • Follikelbildung bei längerem Verlauf
    • Papilläre Reaktion
  3. Hornhaut:
    • Oberflächliche Keratitis punctata, typischerweise im unteren Drittel
    • Periphere Hornhautinfiltrate
    • In schweren, unbehandelten Fällen Hornhautulzerationen oder marginale Keratitis

Komplikationen

Unbehandelt kann die Blepharitis ulcerosa zu folgenden Komplikationen führen:

Diagnostik

Anamnese

Eine gründliche Anamnese erfasst:

Klinische Untersuchung

Die biomikroskopische Untersuchung mit der Spaltlampe ist essentiell und umfasst:

Mikrobiologische Diagnostik

Bei therapieresistenten oder schweren Verläufen ist eine mikrobiologische Abklärung indiziert:

Differentialdiagnostik

Differentialdiagnostisch abzugrenzen sind:

Therapiekonzepte

Die Therapie der Blepharitis ulcerosa erfordert ein mehrstufiges Vorgehen:

Lokale Maßnahmen

  1. Lidhygiene:
    • Regelmäßige (2-3× täglich) Reinigung der Lidränder
    • Entfernung von Krusten mit warmem Wasser und sterilen Kompressen
    • Anwendung spezieller Lidrandtücher mit antimikrobiellen Zusätzen
    • Warme Kompressen (42-45°C) für 5-10 Minuten zur Verflüssigung der Meibom-Drüsen-Sekrete
    • Sanfte Expression der Meibom-Drüsen nach Erwärmung
  2. Topische Antibiotika:
    • Erste Wahl: Aminoglykoside (Gentamicin, Tobramycin) als Augensalbe zur Nacht
    • Alternative: Macrolide (Erythromycin, Azithromycin) bei empfindlichen Erregern
    • Bei MRSA-Nachweis: Mupirocin-Salbe oder Fusidinsäure
    • Anwendungsdauer: Mindestens 2-3 Wochen, bei schwerem Verlauf länger
  3. Antiseptika:
    • Polyhexanid-Lösungen zur Lidrandreinigung
    • Povidon-Iod-Lösungen in niedrigen Konzentrationen (0,5-1%)
    • Octenidin-haltige Präparate
  4. Anti-inflammatorische Therapie:
    • Kurzfristige Anwendung niedrig potenter topischer Steroide (z.B. Fluorometholon 0,1%) bei ausgeprägter Entzündung
    • Calcineurin-Inhibitoren (Ciclosporin 0,05%, Tacrolimus 0,03%) bei chronischen Verläufen
    • Topische NSAIDs als steroidfreie Alternative

Systemische Therapie

Bei schweren oder therapieresistenten Verläufen:

  1. Systemische Antibiotika:
    • Tetracycline (Doxycyclin 100 mg/d für 3-4 Wochen)
    • Macrolide (Azithromycin-Pulstherapie)
    • Cephalosporine bei schweren Infektionen
  2. Immunmodulation:
    • Niedrig dosierte orale Steroide in Ausnahmefällen
    • Bei assoziierten Autoimmunerkrankungen entsprechende Therapie der Grunderkrankung

Begleitende Maßnahmen

Chirurgische Interventionen

Bei chronisch-rezidivierenden Verläufen mit strukturellen Veränderungen:

Verlauf und Prognose

Die Prognose der Blepharitis ulcerosa ist bei adäquater Therapie überwiegend günstig. Etwa 70-80% der Patienten erreichen eine vollständige Remission unter konsequenter Lokaltherapie. Allerdings neigt die Erkrankung zu Rezidiven, insbesondere wenn prädisponierende Faktoren weiterbestehen.

Chronische Verläufe werden bei etwa 20-30% der Patienten beobachtet und erfordern eine langfristige Erhaltungstherapie mit regelmäßiger Lidhygiene und intermittierender antibiotischer Therapie. Die Langzeitprognose wird maßgeblich durch das Ausmaß struktureller Lidveränderungen und die Compliance des Patienten beeinflusst.

Faktoren, die mit einer ungünstigeren Prognose assoziiert sind:

Prävention

Präventive Maßnahmen zur Vermeidung von Rezidiven umfassen:

Fazit für die Praxis

Die Blepharitis ulcerosa stellt eine therapeutische Herausforderung in der ophthalmologischen Praxis dar. Der Schlüssel zum Therapieerfolg liegt in einem strukturierten diagnostischen Vorgehen, der konsequenten Durchführung der Lidhygiene und einer adäquaten antimikrobiellen Therapie. Bei therapieresistenten Verläufen sollte stets eine mikrobiologische Diagnostik erfolgen.

Die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Dermatologen ist insbesondere bei assoziierten Hauterkrankungen von großer Bedeutung. Patienten benötigen eine ausführliche Aufklärung über die chronische Natur der Erkrankung und die Notwendigkeit einer langfristigen, konsequenten Lidhygiene zur Vermeidung von Rezidiven und Komplikationen.

Zukünftige Therapieansätze konzentrieren sich auf die Entwicklung spezifischer Immunmodulatoren und antimikrobieller Peptide, die eine gezieltere Kontrolle des Entzündungsprozesses ermöglichen könnten.

Literatur

Die aktuelle Fachliteratur bietet umfangreiche Evidenz zu diagnostischen und therapeutischen Ansätzen der Blepharitis ulcerosa. Besonders hervorzuheben sind internationale Konsensus-Dokumente zur Lidhygiene und Leitlinien zur antibiotischen Therapie bei lidrandbezogenen Infektionen.