Definition und Grundlagen

Die Anti-VEGF-Therapie (Anti-Vascular Endothelial Growth Factor) ist ein medikamentöses Behandlungsverfahren in der Augenheilkunde, das auf die Hemmung des Gefäßwachstumsfaktors VEGF abzielt. VEGF ist ein Signalprotein, das die Neubildung von Blutgefäßen (Angiogenese) stimuliert und die Gefäßpermeabilität erhöht. Bei verschiedenen Netzhauterkrankungen kommt es zu einer Überexpression von VEGF, die zur pathologischen Gefäßneubildung und erhöhten Gefäßdurchlässigkeit führt. Durch die intravitreale Injektion von Anti-VEGF-Medikamenten wird dieser pathologische Prozess gehemmt, was zu einer Stabilisierung oder sogar Verbesserung der Sehfunktion führen kann.

Die Anti-VEGF-Therapie hat seit ihrer Einführung Anfang der 2000er Jahre die Behandlung zahlreicher Netzhauterkrankungen revolutioniert und gilt heute als Standardtherapie für viele vaskuläre und exsudative Erkrankungen der Netzhaut.

Wirkmechanismus

Anti-VEGF-Wirkstoffe sind Proteine, die selektiv an VEGF binden und dessen Interaktion mit den entsprechenden Rezeptoren (vor allem VEGFR-1 und VEGFR-2) auf Endothelzellen blockieren. Dadurch werden folgende pathologische Prozesse gehemmt:

  1. Angiogenese: Die Neubildung von abnormen, undichten Blutgefäßen wird unterdrückt.
  2. Vaskuläre Hyperpermeabilität: Die erhöhte Durchlässigkeit der Gefäßwände wird reduziert, wodurch weniger Flüssigkeit ins umliegende Gewebe austritt.
  3. Entzündungsprozesse: Die durch VEGF vermittelte Rekrutierung von Entzündungszellen wird vermindert.

Infolgedessen kommt es zu einer Reduktion des Makulaödems, einer Regression abnormer Gefäße und einer Stabilisierung der Blut-Retina-Schranke, was zur Verbesserung der Sehfunktion beitragen kann.

Zugelassene Präparate

Derzeit sind folgende Anti-VEGF-Präparate für die intravitreale Anwendung zugelassen:

Bevacizumab (Avastin®)

Ranibizumab (Lucentis®)

Aflibercept (Eylea®)

Brolucizumab (Beovu®)

Faricimab (Vabysmo®)

Klinische Anwendungsgebiete

Die Anti-VEGF-Therapie wird bei folgenden Netzhauterkrankungen eingesetzt:

Neovaskuläre (feuchte) altersbedingte Makuladegeneration (nAMD)

Diabetisches Makulaödem (DMÖ)

Retinale Venenverschlüsse (RVV)

Myope choroidale Neovaskularisation (myope CNV)

Frühgeborenenretinopathie (ROP)

Weitere Anwendungsgebiete

Behandlungsschemata

Die optimale Häufigkeit und Dauer der Anti-VEGF-Injektionen variiert je nach Erkrankung und individueller Krankheitsaktivität. Folgende Therapieschemata werden angewendet:

Festes Schema (Fixed Regimen)

Pro Re Nata (PRN)

Treat and Extend (T&E)

Observe and Plan

Durchführung der Behandlung

Die intravitreale Injektion eines Anti-VEGF-Medikaments erfolgt als ambulanter Eingriff unter sterilen Bedingungen:

  1. Vorbereitung:
    • Aufklärung und Einwilligung des Patienten
    • Ausschluss von Kontraindikationen (aktive Infektion, Glaukom etc.)
    • Überprüfung der Vitalparameter bei Risikopatienten
  2. Anästhesie:
    • Topische Betäubung mit Lidocain-Augentropfen
    • Ggf. zusätzliche Subkonjunktivalanästhesie
  3. Antiseptische Maßnahmen:
    • Desinfektion der periokularen Haut mit Povidon-Iod
    • Spülung des Bindehautsacks mit 5% Povidon-Iod-Lösung
    • Verwendung eines sterilen Lidsperrers
  4. Injektion:
    • Markierung der Injektionsstelle 3,5-4,0 mm limbal (pars plana)
    • Injektion mit einer 30G-Nadel
    • Langsame Applikation von 0,05 ml Medikament
    • Kontrolle des Augendruck-Reflexes
  5. Nachsorge:
    • Antibiotische Augentropfen (fakultativ)
    • Kontrolle des intraokularen Drucks bei Risikopatienten
    • Information über Warnsymptome (Schmerzen, Rötung, Sehverschlechterung)

Monitoring und Verlaufskontrolle

Die regelmäßige Überwachung des Therapieerfolgs umfasst:

  1. Funktionelle Parameter:
    • Bestkorrigierte Sehschärfe (BCVA)
    • Kontrastsensitivität
    • Zentrale Gesichtsfeldprüfung
  2. Morphologische Parameter:
    • Optische Kohärenztomographie (OCT): Quantifizierung der Netzhautdicke, Beurteilung von intra- und subretinaler Flüssigkeit
    • Fluoreszenzangiographie (FLA): Beurteilung der Leckage und Neovaskularisation
    • OCT-Angiographie (OCT-A): Nicht-invasive Darstellung der Gefäßstrukturen

Nebenwirkungen und Komplikationen

Die Anti-VEGF-Therapie ist insgesamt sicher, dennoch können folgende Komplikationen auftreten:

Injektionsbedingte Komplikationen

Substanzbedingte Nebenwirkungen

Systemische Nebenwirkungen

Aktuelle Entwicklungen und Ausblick

Die Anti-VEGF-Therapie entwickelt sich kontinuierlich weiter:

Verlängerte Wirkdauer

Kombinationstherapien

Gentherapeutische Ansätze

Patientenmanagement und praktische Hinweise

Ein erfolgreiches Management von Patienten unter Anti-VEGF-Therapie umfasst:

  1. Ausführliche Aufklärung:
    • Über die Notwendigkeit wiederholter Injektionen
    • Über den chronischen Charakter der Grunderkrankung
    • Über realistische Therapieziele
  2. Adhärenzförderung:
    • Strukturierte Terminplanung
    • Erinnerungssysteme für Kontrolltermine
    • Einbeziehung von Angehörigen
  3. Interdisziplinäre Betreuung:
    • Zusammenarbeit mit Hausärzten, Diabetologen, Kardiologen
    • Optimierung von Risikofaktoren (Blutdruck, Blutzucker, Lipidstatus)
    • Anpassung gerinnungshemmender Medikation
  4. Langzeitmanagement:
    • Regelmäßige Neubewertung der Therapienotwendigkeit
    • Berücksichtigung von Komorbiditäten und Lebensqualität
    • Frühzeitige Erkennung von Therapieversagern

Fazit

Die Anti-VEGF-Therapie hat die Behandlung vaskulärer Netzhauterkrankungen revolutioniert und stellt heute den Goldstandard in der Therapie vieler exsudativer Netzhautpathologien dar. Trotz der Notwendigkeit wiederholter Injektionen und der damit verbundenen Belastung für Patienten und Gesundheitssysteme überwiegt der Nutzen durch die Vermeidung von Sehverlust und Erblindung. Zukünftige Entwicklungen zielen auf verlängerte Wirkdauer, verbesserte Wirksamkeit und reduzierte Behandlungslast ab. Die Wahl des optimalen Anti-VEGF-Präparats und Behandlungsschemas sollte individuell unter Berücksichtigung der spezifischen Erkrankung, des Ansprechens auf die Therapie und der Patientenpräferenzen erfolgen.