Das Wichtigste auf einen Blick (TL;DR)
Die diabetische Retinopathie ist eine schwerwiegende Folgeerkrankung des Diabetes mellitus, die durch dauerhaft erhöhte Blutzuckerwerte die feinen Blutgefäße der Netzhaut schädigt. Sie verläuft zunächst symptomlos, kann aber unbehandelt zur Erblindung führen. Jeder vierte Diabetiker ist betroffen. Moderne Behandlungsmethoden wie Anti-VEGF-Injektionen und Laserkoagulation können das Fortschreiten stoppen. Regelmäßige augenärztliche Kontrollen sind für alle Diabetiker lebenswichtig – idealerweise jährlich ab Diagnosestellung.
Was ist diabetische Retinopathie?
Die diabetische Retinopathie ist eine Augenerkrankung, bei der chronisch erhöhte Blutzuckerwerte die mikroskopisch kleinen Blutgefäße der Netzhaut (Retina) schädigen. Diese Mikroangiopathie führt zu strukturellen Veränderungen der Netzhautgefäße, die das Sehvermögen erheblich beeinträchtigen und im schlimmsten Fall zur Erblindung führen können.
Die Netzhaut ist das lichtempfindliche Gewebe im hinteren Teil des Auges, das Lichtreize in elektrische Signale umwandelt und über den Sehnerv an das Gehirn weiterleitet. Für diese komplexe Funktion benötigt die Netzhaut eine kontinuierliche Blutversorgung durch ein dichtes Netzwerk feinster Gefäße. Genau diese werden bei Diabetes geschädigt.
In Deutschland leiden etwa ein Drittel aller Diabetiker an einer diabetischen Retinopathie. Die Erkrankung betrifft sowohl Menschen mit Typ-1-Diabetes als auch mit Typ-2-Diabetes, wobei die Häufigkeit und Schwere mit der Dauer der Diabeteserkrankung zunimmt.
Ursachen und Entstehung der diabetischen Retinopathie
Grundlegende Mechanismen
Die diabetische Retinopathie entsteht durch die toxische Wirkung chronisch erhöhter Blutzuckerwerte auf die Gefäßwände. Der dauerhaft erhöhte Glukosespiegel führt zu komplexen biochemischen Prozessen, die die Struktur und Funktion der Netzhautgefäße beeinträchtigen:
Gefäßwandschädigungen: Die erhöhte Glukosekonzentration verändert die Proteine der Gefäßwände durch Glykierung, was zu einer erhöhten Gefäßpermeabilität führt. Flüssigkeit und Blutzellen können leichter aus den Gefäßen austreten.
Kapillarverschlüsse: Kleine Netzhautgefäße werden durch Verdickung der Gefäßwände und Verklumpung von Blutzellen verschlossen. Dies führt zu lokaler Sauerstoffunterversorgung (Ischämie) der Netzhaut.
Müller-Zell-Dysfunktion: Nicht nur die Blutgefäße, sondern auch die Müller-Zellen der Netzhaut werden geschädigt. Diese Gliazellen regulieren normalerweise die Blut-Retina-Schranke und den Stoffwechsel. Bei Diabetes schwellen sie an und tragen zur Entstehung des diabetischen Makulaödems bei.
Risikofaktoren für diabetische Retinopathie
Die Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung einer diabetischen Retinopathie wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst:
Dauer der Diabeteserkrankung: Das Risiko steigt kontinuierlich mit der Krankheitsdauer. Nach 20 Jahren Diabetes entwickeln etwa 90% der Typ-1-Diabetiker und 60-80% der Typ-2-Diabetiker eine Retinopathie.
Blutzuckereinstellung: Eine schlechte glykämische Kontrolle mit häufig erhöhten HbA1c-Werten beschleunigt die Gefäßschädigung erheblich.
Bluthochdruck: Hypertonie verstärkt die Schädigung der Netzhautgefäße und erhöht das Risiko für das Fortschreiten der Erkrankung.
Fettstoffwechselstörungen: Erhöhte Cholesterin- und Triglyceridwerte begünstigen die Entstehung harter Exsudate und Makulopathie.
Weitere Faktoren: Nierenerkrankungen, Schwangerschaft, Rauchen und genetische Veranlagung können das Risiko zusätzlich erhöhen.
Symptome und Krankheitsverlauf
Frühe Stadien: Die stille Gefahr
Die diabetische Retinopathie ist in ihren Anfangsstadien besonders tückisch, da sie häufig ohne spürbare Beschwerden verläuft. Viele Betroffene bemerken erst dann Veränderungen, wenn bereits irreversible Schäden aufgetreten sind. Diese symptomlose Phase kann Jahre andauern, weshalb regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen so wichtig sind.
Fortgeschrittene Symptome
Wenn die Erkrankung fortschreitet, treten typische Warnsymptome auf, die Betroffene unbedingt ernst nehmen sollten:
Schleichende Sehverschlechterung: Das Sehvermögen nimmt allmählich ab, besonders im zentralen Gesichtsfeld. Betroffene haben Schwierigkeiten beim Lesen oder Erkennen von Details.
Verschwommenes Sehen: Konturen werden unscharf, Texte erscheinen verschwommen oder wellig verzerrt.
Mouches volantes: Schwarze Punkte, Fäden oder Flecken schweben vor dem Auge. Dies kann ein Hinweis auf Blutungen im Glaskörper sein.
Lichtblitze: Plötzliche Lichterscheinungen, besonders bei Augenbewegungen, können auf Netzhautveränderungen hinweisen.
Farbsehstörungen: Farben werden blasser oder schwerer unterscheidbar, besonders im Blau-Gelb-Bereich.
Gesichtsfeldausfälle: Dunkle Bereiche oder ein „Vorhang“ im Gesichtsfeld können auf schwerwiegende Komplikationen hindeuten.
Nachtblindheit: Verschlechtertes Sehen bei Dämmerung und in der Dunkelheit.
Akute Komplikationen
In fortgeschrittenen Stadien können plötzliche, dramatische Sehverschlechterungen auftreten:
Glaskörperblutung: Wenn neue, brüchige Blutgefäße platzen, kann Blut in den Glaskörper einbluten und zu plötzlichem, schwerem Sehverlust führen.
Netzhautablösung: Narbengewebe kann die Netzhaut von ihrer Unterlage abziehen (Traktionsamotio), was unbehandelt zur Erblindung führt.
Stadien der diabetischen Retinopathie
Die diabetische Retinopathie wird nach der internationalen klinischen Klassifikation in verschiedene Stadien eingeteilt:
Nicht-proliferative diabetische Retinopathie (NPDR)
Milde Form: Vereinzelte Mikroaneurysmen (kleine Gefäßaussackungen) und punktförmige Blutungen in der Netzhaut. Meist noch keine Sehbeeinträchtigung.
Mäßige Form: Vermehrte Mikroaneurysmen, intraretinale Blutungen und erste Zeichen von Gefäßverschlüssen. Perlschnurartige Venenveränderungen werden sichtbar.
Schwere Form: Ausgedehnte intraretinale Blutungen, multiple Cotton-Wool-Herde (Nervenfaserinfarkte), deutliche Venenanomalien und beginnende Minderdurchblutung größerer Netzhautbereiche.
Proliferative diabetische Retinopathie (PDR)
In diesem fortgeschrittenen Stadium bilden sich als Reaktion auf die Sauerstoffunterversorgung neue, abnormale Blutgefäße (Neovaskularisationen). Diese wachsen von der Netzhaut in den Glaskörper hinein, sind jedoch strukturell minderwertig und neigen zu Blutungen und Narbenbildung.
Diabetisches Makulaödem (DMÖ)
Das diabetische Makulaödem kann in jedem Stadium auftreten und bezeichnet eine Schwellung der Makula (Stelle des schärfsten Sehens) durch Flüssigkeitsansammlung. Es ist die häufigste Ursache für Sehverlust bei diabetischer Retinopathie.
Moderne Diagnostik der diabetischen Retinopathie
Augenärztliche Basisuntersuchung
Die Diagnose beginnt mit einer gründlichen augenärztlichen Untersuchung:
Sehschärfeprüfung: Bestimmung der Sehkraft für Ferne und Nähe sowie Kontrolle des Farbsehens.
Spaltlampenuntersuchung: Beurteilung der vorderen Augenabschnitte und der Linse.
Augendruckmessung: Ausschluss eines sekundären Glaukoms.
Funduskopie: Untersuchung des Augenhintergrundes mit erweiterten Pupillen zur direkten Betrachtung der Netzhaut.
Weiterführende bildgebende Verfahren
Fundusfotografie: Dokumentation der Netzhautveränderungen für Verlaufskontrollen.
Fluoreszenzangiografie (FAG): Nach Injektion eines Farbstoffs werden Durchblutungsstörungen, undichte Gefäße und Minderdurchblutungsareale sichtbar gemacht.
Optische Kohärenztomografie (OCT): Hochauflösende Schichtaufnahmen der Netzhaut ermöglichen die präzise Darstellung und Quantifizierung von Makulaödemen.
OCT-Angiografie: Kontrastmittelfreie Darstellung der retinalen Gefäße zur Beurteilung der Durchblutung.
Screening und Verlaufskontrollen
Die Deutsche Diabetes Gesellschaft empfiehlt folgende Kontrollintervalle:
- Typ-1-Diabetes: Erste Untersuchung 5 Jahre nach Diagnose, dann jährlich
- Typ-2-Diabetes: Untersuchung ab Diagnosestellung, dann jährlich
- Bei Retinopathie: Verkürzte Intervalle je nach Stadium (alle 3-6 Monate)
- Schwangerschaft: Kontrollen alle 3 Monate
Moderne Behandlungsmöglichkeiten
Grundlegende Therapieprinzipien
Die erfolgreiche Behandlung der diabetischen Retinopathie basiert auf einem multidisziplinären Ansatz:
Optimale Diabeteseinstellung: Die wichtigste Maßnahme ist die konsequente Blutzuckerkontrolle mit einem HbA1c-Zielwert unter 7%. Dies kann das Fortschreiten der Retinopathie um bis zu 60% verlangsamen.
Blutdruckmanagement: Eine Senkung des Blutdrucks unter 140/80 mmHg reduziert das Risiko für Laserbehandlungen um 35%.
Lipidmanagement: Die Behandlung von Fettstoffwechselstörungen verringert das Risiko für harte Exsudate und Makulopathie.
Anti-VEGF-Therapie: Der neue Goldstandard
Die intravitreale Injektion von Anti-VEGF-Medikamenten hat die Behandlung der diabetischen Retinopathie revolutioniert:
Wirkungsmechanismus: Diese Medikamente blockieren den vaskulären endothelialen Wachstumsfaktor (VEGF), der für die abnorme Gefäßneubildung und erhöhte Gefäßpermeabilität verantwortlich ist.
Verfügbare Wirkstoffe:
- Ranibizumab (Lucentis): Erste Wahl bei diabetischem Makulaödem
- Aflibercept (Eylea): Besonders wirksam bei schweren Fällen
- Bevacizumab (Avastin): Off-Label-Verwendung mit guter Wirksamkeit
- Faricimab (Vabysmo): Neuester dualer Inhibitor von VEGF-A und Angiopoietin-2
Behandlungsablauf: Die Injektionen erfolgen ambulant unter sterilen Bedingungen nach örtlicher Betäubung. Typischerweise beginnt die Behandlung mit 3-5 monatlichen Injektionen, gefolgt von einer bedarfsorientierten Therapie.
Behandlungserfolg: Studien zeigen, dass Anti-VEGF-Medikamente nicht nur das Fortschreiten stoppen, sondern bei etwa 30-40% der Patienten sogar zu einer Sehverbesserung führen können.
Laserkoagulation: Bewährte Standardtherapie
Die Laserbehandlung bleibt ein wichtiger Baustein der Therapie:
Panretinale Laserkoagulation (PRP): Bei proliferativer Retinopathie werden große Netzhautbereiche punktförmig gelasert, um die VEGF-Produktion zu reduzieren und die Neubildung abnormaler Gefäße zu stoppen.
Fokale/Gitterlaserung: Bei diabetischem Makulaödem werden gezielt undichte Mikroaneurysmen verödet.
Moderne Lasersysteme: Navigierte Laser wie das Navilas-System ermöglichen präzise, schonende Behandlungen mit reduziertem Kollateralschaden.
Operative Behandlung
Vitrektomie: Bei schweren Komplikationen wie persistierender Glaskörperblutung oder Netzhautablösung ist eine operative Entfernung des Glaskörpers erforderlich. Dabei werden auch Narbengewebe und Traktionen beseitigt.
Kombinationseingriffe: Häufig wird die Vitrektomie mit einer Laserkoagulation und/oder Anti-VEGF-Injektionen kombiniert.
Kortisontherapie
Intravitreale Steroide: Bei therapieresistentem diabetischen Makulaödem können Kortisonpräparate wie Dexamethason (Ozurdex) oder Fluocinolonacetonid (Iluvien) als langsam freisetzende Implantate eingesetzt werden.
Wirkung: Steroide reduzieren Entzündungen und vermindern die Gefäßpermeabilität, haben jedoch Nebenwirkungen wie Augendruckerhöhung und Kataraktentwicklung.
Innovative Behandlungsansätze
Neueste Entwicklungen in der Therapie
Brolucizumab (Beovu): Ein neuer Anti-VEGF-Wirkstoff mit längerer Wirkdauer, der seltener injiziert werden muss.
Port Delivery System: Ein implantierbares Reservoir zur kontinuierlichen Medikamentenabgabe, das die Injektionsfrequenz drastisch reduzieren könnte.
Gentherapie: Experimentelle Ansätze zur dauerhaften Expression von Anti-VEGF-Faktoren im Auge.
Neuroprotektive Therapien: Neue Wirkstoffe zum Schutz der Nervenzellen der Netzhaut sind in der Entwicklung.
Prävention und Vorsorge
Primärprävention
Optimale Diabeteseinstellung: Die beste Vorbeugung ist eine konsequente Behandlung des Diabetes von Beginn an. Ein gut eingestellter Diabetes (HbA1c < 7%) reduziert das Risiko für Retinopathie erheblich.
Blutdruckkontrolle: Regelmäßige Überwachung und Behandlung des Blutdrucks sind essentiell.
Gesunde Lebensführung: Nichtrauchen, ausgewogene Ernährung, regelmäßige Bewegung und Gewichtskontrolle tragen zur Prävention bei.
Sekundärprävention
Regelmäßige Augenkontrollen: Jährliche Untersuchungen beim Augenarzt ermöglichen die Früherkennung von Netzhautveränderungen.
Diabetiker-Schulungen: Aufklärung über die Erkrankung und ihre Risiken verbessert die Therapietreue.
Interdisziplinäre Betreuung: Enge Zusammenarbeit zwischen Hausarzt, Diabetologe und Augenarzt optimiert die Versorgung.
Besondere Situationen
Schwangerschaft: Diabetikerinnen benötigen während der Schwangerschaft engmaschige Augenkontrollen alle 3 Monate, da sich eine Retinopathie beschleunigt entwickeln kann.
Kataraktoperation: Vor geplanten Augenoperationen sollte die Retinopathie stabilisiert werden, da Operationen das Fortschreiten beschleunigen können.
Prognose und Langzeitverlauf
Früherkennung entscheidet über die Prognose
Bei rechtzeitiger Diagnose und konsequenter Behandlung ist die Prognose der diabetischen Retinopathie heute deutlich besser als früher:
Frühe Stadien: Die nicht-proliferative Retinopathie kann bei guter Diabeteseinstellung stabilisiert oder sogar rückgängig gemacht werden.
Fortgeschrittene Stadien: Mit modernen Behandlungsmethoden kann das Sehvermögen in 85-90% der Fälle erhalten oder verbessert werden.
Behandlungsresistenz: Etwa 10-15% der Patienten sprechen nicht ausreichend auf die Standardtherapie an und benötigen intensive, oft operative Behandlungen.
Langzeitbetreuung
Die diabetische Retinopathie ist eine chronische Erkrankung, die lebenslange Aufmerksamkeit erfordert:
Regelmäßige Kontrollen: Auch nach erfolgreicher Behandlung sind regelmäßige Nachkontrollen erforderlich.
Therapieanpassung: Die Behandlung muss an den Verlauf der Erkrankung angepasst werden.
Neue Therapieoptionen: Die Augenheilkunde entwickelt sich schnell weiter, sodass auch bei fortgeschrittenen Fällen neue Behandlungsoptionen verfügbar werden.
Lebensqualität und Alltag mit diabetischer Retinopathie
Praktische Tipps für Betroffene
Gute Beleuchtung: Ausreichend helles Licht beim Lesen und bei Tätigkeiten kann Sehschwierigkeiten kompensieren.
Sehhilfen: Vergrößernde Sehhilfen, spezielle Brillen oder elektronische Hilfsmittel können die Lebensqualität verbessern.
Fahrtauglichkeit: Regelmäßige Überprüfung der Fahrtauglichkeit durch den Augenarzt ist wichtig für die Verkehrssicherheit.
Berufliche Aspekte: Bei Sehbeeinträchtigungen können Arbeitsplatzanpassungen oder Umschulungsmaßnahmen hilfreich sein.
Psychosoziale Unterstützung
Eine chronische Augenerkrankung kann psychisch belastend sein:
Beratung: Patientenorganisationen und Beratungsstellen bieten Unterstützung.
Selbsthilfegruppen: Der Austausch mit anderen Betroffenen kann hilfreich sein.
Professionelle Hilfe: Bei Depressionen oder Ängsten ist psychologische Unterstützung sinnvoll.
Fazit: Diabetische Retinopathie erfolgreich behandeln
Die diabetische Retinopathie ist eine schwerwiegende, aber heute gut behandelbare Komplikation des Diabetes. Der Schlüssel zum Erfolg liegt in der Früherkennung durch regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen und der rechtzeitigen Behandlung mit modernen Therapieverfahren.
Besonders wichtig ist die enge Zusammenarbeit zwischen Patient, Hausarzt, Diabetologe und Augenarzt. Eine optimale Diabeteseinstellung bleibt die wichtigste präventive Maßnahme, während Anti-VEGF-Injektionen und Laserbehandlungen bei bereits eingetretenen Schäden sehr effektiv sind.
Diabetiker sollten niemals zögern, bei Sehstörungen sofort den Augenarzt aufzusuchen. Je früher eine diabetische Retinopathie erkannt und behandelt wird, desto besser sind die Chancen, das Augenlicht zu erhalten.