Definition und Überblick
Ein Chalazion (Plural: Chalazien; vom griechischen χαλάζιον = „kleines Hagelkorn“) ist eine chronische, granulomatöse Entzündung einer Meibom-Drüse im Augenlid. Im Gegensatz zum akuten Hordeolum (Gerstenkorn) entwickelt sich das Chalazion langsamer und ist in der Regel nicht bakteriell bedingt. Es zeigt sich als schmerzlose, knotige Verdickung im Ober- oder Unterlid und kann sowohl Erwachsene als auch Kinder betreffen. Die Prävalenz von Chalazien in der Allgemeinbevölkerung liegt bei etwa 0,2-5,9%, wobei Patienten mit bestimmten Grunderkrankungen wie Rosazea, Seborrhoisches Ekzem oder Blepharitis häufiger betroffen sind.
Anatomie und Pathophysiologie
Anatomie der Meibom-Drüsen
Die Meibom-Drüsen (Glandulae tarsales) sind modifizierte Talgdrüsen, die in die Tarsalplatte der Augenlider eingebettet sind. Im Oberlid befinden sich etwa 30-40, im Unterlid etwa 20-30 dieser Drüsen. Sie produzieren das Meibom-Sekret (Meibum), eine ölige Substanz, die einen wichtigen Bestandteil des Tränenfilms darstellt und dessen Verdunstung verhindert.
Pathogenese des Chalazions
Die Entstehung eines Chalazions beginnt typischerweise mit einer Obstruktion des Ausführungsgangs einer Meibom-Drüse. Dies führt zur Retention des Sekretes und zur Ruptur der Drüsenwand. Das austretende Lipidsekret löst eine granulomatöse Fremdkörperreaktion im umgebenden Gewebe aus. Histopathologisch zeigt sich ein lipogranulomatöser Entzündungsprozess mit epitheloiden Zellen, mehrkernigen Riesenzellen und Lymphozyten.
Verschiedene Faktoren können zur Entwicklung eines Chalazions beitragen:
- Dysfunktion der Meibom-Drüsen (MGD): Eine veränderte Zusammensetzung des Meibum-Sekrets kann zu erhöhter Viskosität und dadurch zur Obstruktion führen
- Chronische Blepharitis: Entzündliche Veränderungen des Lidrandes können zur Hyperkeratinisierung der Ausführungsgänge führen
- Rosazea: Betroffene haben ein erhöhtes Risiko für Chalazien aufgrund begleitender MGD
- Seborrhoisches Ekzem: Kann zu vermehrter Talgproduktion und Verlegung der Drüsenausführungsgänge führen
- Akne vulgaris: Assoziiert mit Veränderungen in der Talgdrüsenfunktion
- Hormonelle Faktoren: Insbesondere Androgene beeinflussen die Talgdrüsenfunktion
Klinisches Bild und Diagnostik
Symptomatik
Das typische Erscheinungsbild eines Chalazions umfasst:
- Schmerzlose, feste Schwellung im Augenlid (2-8 mm im Durchmesser)
- Langsame Entwicklung über Wochen
- Lokalisierung häufiger am Oberlid als am Unterlid
- Bei Größenzunahme mögliche Rötung der Lidhaut oder Bindehaut
- Bei konjunktivaler Beteiligung mögliches Fremdkörpergefühl
- Bei großen Chalazien möglicher Astigmatismus durch Druck auf den Bulbus
- In seltenen Fällen Visusminderung bei zentraler Lokalisation
Differentialdiagnostik
Ein Chalazion muss von folgenden Erkrankungen abgegrenzt werden:
- Hordeolum externum (Gerstenkorn): Akute, schmerzhafte, bakterielle Infektion einer Zeis- oder Moll-Drüse am Lidrand
- Hordeolum internum: Akute bakterielle Infektion einer Meibom-Drüse, mit Schmerzen und systemischen Entzündungszeichen
- Dakryozystitis: Entzündung des Tränensacks, charakterisiert durch Schwellung im medialen Augenwinkel
- Lidtumoren: Insbesondere bei älteren Patienten und therapieresistenten Chalazien sollte an maligne Prozesse gedacht werden (Basalzellkarzinom, Plattenepithelkarzinom, sebazöses Karzinom)
- Marginales Lidrandkarzinom: Kann initial als unspezifische Lidrandentzündung imponieren
Diagnostisches Vorgehen
Die Diagnose wird in der Regel klinisch gestellt:
- Anamnese: Beginn und Verlauf, Begleitsymptome, Vorerkrankungen, Rezidive
- Inspektion und Palpation: Lokalisation, Größe, Konsistenz, Druckschmerzhaftigkeit
- Spaltlampenuntersuchung: Beurteilung des Lidrandes, der Bindehaut und der Hornhaut
- Eversion des Augenlides: Zur Beurteilung der konjunktivalen Beteiligung und zum Ausschluss von Fremdkörpern
- Meibographie: Nicht-invasive Darstellung der Meibom-Drüsen bei rezidivierenden Chalazien oder MGD-Verdacht
Bei atypischem Verlauf, Therapieresistenz oder Malignitätsverdacht sind folgende weiterführende Untersuchungen indiziert:
- Biopsie mit histologischer Untersuchung: Insbesondere bei älteren Patienten, rezidivierenden oder therapieresistenten Chalazien
- Bildgebende Verfahren: Bei Verdacht auf orbitale Beteiligung
Therapeutische Optionen
Die Behandlung richtet sich nach dem Entwicklungsstadium und der Symptomatik des Chalazions. Folgende Therapieoptionen stehen zur Verfügung:
Konservative Therapie
Bei frischen, kleinen Chalazien ist ein konservatives Vorgehen indiziert:
- Warme Kompressen: 4-6 mal täglich für 10-15 Minuten, fördert die Verflüssigung des Sekretes
- Lidmassage: Nach der Wärmeanwendung in Richtung Lidrand, unterstützt die Entleerung der Drüse
- Antibiotische Augensalben: Bei begleitender bakterieller Blepharitis (z.B. Erythromycin, Bacitracin)
- Lokaltherapie bei MGD: Lidrandhygiene mit milden Reinigungslösungen
Diese Maßnahmen sollten über mindestens 2-4 Wochen konsequent durchgeführt werden. Etwa 25-50% der Chalazien bilden sich unter konservativer Therapie zurück.
Medikamentöse Therapie
Bei persistierenden Chalazien kann folgende medikamentöse Therapie erwogen werden:
- Intraluminale oder intralesionale Steroidinjektion: Triamcinolonacetonid (10-40 mg/ml), 0,05-0,3 ml direkt in das Chalazion
- Erfolgsrate: 60-84%
- Komplikationen: Depigmentierung, Lidhautatrophie, Gefäßverschlüsse, erhöhter Augendruck
- Kontraindikationen: Glaukom, Steroidresponder, bakterielle Infektion
- Topische Steroide: Bei kleinen Chalazien und oberflächlicher Lage, weniger effektiv als Injektionen
Chirurgische Therapie
Die chirurgische Intervention ist indiziert bei:
- Größeren Chalazien (>5 mm)
- Persistenz trotz konservativer Therapie über 4-6 Wochen
- Rezidivierenden Chalazien
- Visueller Beeinträchtigung durch Astigmatismus
- Kosmetisch störenden Chalazien
Folgende Techniken kommen zum Einsatz:
- Inzision und Kürettage:
- Methode der Wahl bei größeren Chalazien
- Durchführung unter Lokalanästhesie
- Fixation des Augenlids mit Lidplatte (Chalazionpinzette)
- Vertikale Inzision von der Bindehautseite
- Ausräumung des granulomatösen Materials mit Chalazionlöffel
- Erfolgsrate: 87-97%
- Komplikationen: Blutung, Infektion, Narbenbildung, Rezidiv
- Transkonjunktivale Nadelaspiration:
- Alternative bei kleinen, weichen Chalazien
- Geringeres Trauma, einfachere Durchführung
- Erfolgsrate: geringer als bei Inzision und Kürettage
- CO₂-Laser oder Radiofrequenz-Ablation:
- Alternative bei spezieller Ausstattung
- Vorteil: geringere Blutung, präzisere Exzision
- Nachteile: höhere Kosten, spezielle Ausrüstung erforderlich
Nachsorge
Nach chirurgischer Intervention wird empfohlen:
- Antibiotische Augensalbe für 5-7 Tage
- Vermeidung von Augenreiben und Make-up für 1-2 Wochen
- Kontrolle nach 1-2 Wochen
Prävention und Management von Rezidiven
Chalazien neigen bei prädisponierten Patienten zu Rezidiven. Folgende Maßnahmen können das Rezidivrisiko senken:
- Regelmäßige Lidrandhygiene: Tägliche Reinigung mit milden Produkten
- Wärmeanwendungen: 1-2 mal täglich bei bekannter MGD
- Behandlung von Grunderkrankungen:
- Rosazea: Topische oder systemische Therapie mit Metronidazol, Azelainsäure oder Tetrazyklinen
- Seborrhoisches Ekzem: Antimykotische Shampoos, milde Kortikosteroide
- Akne vulgaris: Topische Retinoide, Benzoylperoxid, systemische Antibiotika oder Isotretinoin
- Omega-3-Fettsäuren: Möglicher positiver Effekt auf die Meibom-Drüsenfunktion (1-2 g/Tag)
- Regelmäßige augenärztliche Kontrollen: Bei rezidivierenden Chalazien
Besondere Patientengruppen
Kinder
Bei Kindern gelten folgende Besonderheiten:
- Häufig besseres Ansprechen auf konservative Therapie
- Bei chirurgischer Intervention oft Sedierung oder Vollnarkose erforderlich
- Sorgfältige Differentialdiagnostik bei rezidivierenden Chalazien (juvenile Xanthogranulome)
Ältere Patienten
Bei Patienten über 60 Jahren:
- Erhöhte Aufmerksamkeit bezüglich maligner Prozesse
- Bei therapieresistenten oder atypischen Befunden großzügige Indikation zur Biopsie
- Häufigere Assoziation mit systemischen Erkrankungen
Patienten mit Diabetes mellitus
Diabetiker zeigen:
- Erhöhte Prävalenz von Chalazien
- Häufigere bakterielle Superinfektion
- Langsamere Heilungstendenz
- Engmaschigere Nachsorge nach chirurgischer Intervention erforderlich
Komplikationen
Obwohl Chalazien in der Regel gutartig verlaufen, können folgende Komplikationen auftreten:
- Astigmatismus: Durch Druck auf die Hornhaut, meist reversibel nach Behandlung
- Bakterielle Infektion: Superinfektion mit pyogenen Bakterien
- Kosmetische Beeinträchtigung: Durch persistente Lidverdickung oder Narbenbildung
- Seltene schwerwiegende Komplikationen:
- Präseptale oder orbitale Zellulitis
- Preseptal cellulitis or orbital cellulitis
- Keratitis durch mechanische Irritation
Fazit und Ausblick
Das Chalazion ist eine häufige, in der Regel gutartige Liderkrankung mit charakteristischem klinischem Bild. Die Therapie erfolgt stufenweise, beginnend mit konservativen Maßnahmen über medikamentöse Interventionen bis hin zur chirurgischen Exzision. Bei der Mehrheit der Patienten ist die Prognose exzellent, jedoch sollten insbesondere bei atypischem Verlauf, Therapieresistenz oder Rezidiven differentialdiagnostische Überlegungen angestellt werden.
Die Forschung konzentriert sich aktuell auf ein besseres Verständnis der Pathogenese der Meibom-Drüsen-Dysfunktion und auf die Entwicklung neuer, nicht-invasiver Behandlungsmethoden, die in Zukunft möglicherweise die Notwendigkeit chirurgischer Eingriffe reduzieren könnten.